Kommentar: Christian Nikolai, Raumlenker MotorConsult

Nach Zetsche: Wo sind die Car Guys geblieben?

Kommentar: Christian Nikolai, Raumlenker MotorConsult: Nach Zetsche: Wo sind die Car Guys geblieben?
Erstellt am 14. Juli 2020

Der folgende Kommentar von Christian Nikolai wurde ausgelöst durch unseren Artikel "Medien kritisieren neuen Kurs: Wiederholt Källenius Zetsches Fehler?". Christian Nikolai ist ehemaliger, langjähriger Daimler-Mitarbeiter, Mercedes-Fans.de-Autor und arbeitet heute mit seiner Agentur Raumleker als selbstständiger Consultant.

 Kommentar:

Daimler schippert aktuell durch die wahrscheinlich schwerste Krise, seit Ende des 2. Weltkriegs. Erst Greta mit FfF und dem Traum, die Energiewende in Deutschland würde das Weltklima retten, dann als Reaktion darauf die alleinige Ausrichtung auf Elektromobilität inkl. Verteufelung des Verbrenners, zu guter Letzt auch noch Corona.

Stimmen werden lauter, die behaupten, dass Dieter Zetsche die falschen Weichen gestellt hat und Ola Källenius nun die Suppe auslöffeln muss. Das ist aber nur die halbe Wahrheit und man muss die gesamte Geschichte dieser Entwicklung betrachten.

Dieter Zetsche trat in der Post-Schrempp Ära das schwere Erbe eines „Sonnenkönigs" an, als er von seiner Chrysler-Sanierungsmission zusammen mit Wolfgang Bernhard aus Auburn Hills zurück nach Möhringen kam, um dann später den Vorstandsvorsitz der DaimlerChrysler AG zu übernehmen. Erinnern wir uns nur an die schmerzhafte Trennung von Chrysler und das Compliance-Gemetzel.

Zu dieser Zeit saß ich im Exportbereich namens „DaimlerChrysler Overseas" im NFZ-Marketing sowie später Chrysler/Jeep/Dodge Vertrieb und betreute Generalvertreter-Märkte in Nah-/Mittelost, Osteuropa und Afrika. DCOS – so das Kürzel – wurde damals geführt, wie ein Orden. Auf unseren Auslandseinsätzen fühlten wir uns, wie James Bond auf geheimer Mission und waren extrem stolz, beim Daimler zu arbeiten. Ostersonntag ins Büro kommen, weil dringende Aufgaben zu erledigen waren? Kein Problem! Hätten Schrempp oder später Zetsche damals per DaimlerChrysler TV verlauten lassen „...alle Mann am Katzenklo (Skulptur aus weißen Steinen von allen Kontinenten im Foyer der damaligen Konzernzentrale in Stuttgart Möhringen) antreten zum Stern-Tätowieren" – ich wäre ohne Zögern in den Aufzug gestiegen und hätte auf dem Weg schonmal den Oberarm freigemacht.

Eins einte uns damals nämlich – den Vorstand, wie die Bereichs- und Abteilungsleiter, bis hin zu den Praktikanten: Wir waren Car-Guys mit literweise Benzin im Blut!

Wir wollte Autos bauen und verkaufen. Die besten Autos, die es gab und die weltweit den Ton angaben, was Qualität, Innovation und Markenwert anging. Wir waren - zu Recht - extrem selbstbewusst bei allem, was wir taten und glaubten fest an eine leuchtende Zukunft. Ganz egal, welche neuen Sparmaßnahmen oder Spielregeln, wie das knallharte, von Jürgen Schrempp durch den US-Börsengang eingebrockte Compliance-Diktat uns das Leben in der Folge durch die Besuche der SEC (U.S. Securities and Exchange Commission, US-Börsenaufsicht) garantiert nicht leichter machten.

Damals wurde ein neues, bisher unbekanntes Kapitel aufgeschlagen. Gestandene Manager, wie mein damaliger Bereichsleiter, die ihr Handwerk verstanden, mussten aus Compliance-Gründen das Unternehmen verlassen, obwohl sie sich zu keinem Zeitpunkt persönlich bereicherten und nur im Sinne des Unternehmens gearbeitet haben. Sieben Tage die Woche, 12 Stunden am Tag: Immer im Dienst des Sterns! Ersetzt wurden sie zu großen Teilen durch eine neue Nachwuchsgruppen-Generation, die in das von der SEC verordnete Anforderungsprofil von richtiger Gesinnung, Folgsamkeit und dem erfolgreichen Unterdrücken der eigenen Meinung passten. Eigene Entscheidungen treffen war scheinbar nicht mehr gefragt. Stattdessen sicherte jeder gegen jeden seinen Hintern nach oben ab, woran sich bis heute - wenn ich das von außen betrachtet richtig deute - nichts geändert hat.

Wenn dann der wahrscheinlich letzte Car-Guy Dieter Zetsche ab- und ein Mann auf den Plan tritt, der „Sparen und Sanieren" als neues Geschäftsmodell ausgerufen hat, wird es eng – vor allem, wenn dieser ankündigt, jetzt nur noch „iPhone auf Rädern" zu bauen, die ausschließlich elektrisch fahren!

Bei dieser Nachricht traf mich der Schlag, denn Mercedes-Benz ist ein quasi genetisch verankerter Teil von mir um den ich mich sorge, wie um ein Familienmitglied. Mit „Sanieren und Sparen" begeistert man weder Mitarbeiter in Vertrieb und Entwicklung, noch Kunden. Mit einem iPhone rumfahren will auch keiner, wenn ich mich im meinem Automotive-Umfeld umhöre.

Schlimm genug, dass dann noch zugunsten der Masse die Klasse abgeschafft wurde, indem man das Produktportfolio bis in die letzte Nische aufblähte und damit versuchte, „neue Zielgruppen" zu erobern, wobei man ihnen einen Mercedes-Benz / AMG mit Dumping-Leasing Konditionen unterjubelte. Ola Källenius ist sicherlich ein erfahrener, altgedienter Mercedes-Mann; keine Frage. Allerdings mit einem ausgeprägten Hang zum Controlling, ohne das es zwar nicht geht – das aber auch nicht den Markenkern bestimmen darf. Eine Marke wie Mercedes-Benz lebt von einem gesunden Mix aus Tradition, Innovation und Zukunft. Hier sehe ich aktuell einige gravierende Defizite. Wirkliche, selbstentwickelte Innovation hat plötzlich offensichtlich ausgedient. Stattdessen wird verzweifelt mit den Wölfen geheult – allerdings wie seinerzeit bei der Einführung der Heckflosse „in Rufweite hinter der Mode".

Warum geht Daimler nicht seinen eigenen, selbstbewussten Weg und arbeitet an pragmatischen Konzepten wie E-Fuels oder Dieselmotoren, die z.B. mit Jatrophaöl nicht nur klimaneutral, sondern sogar klimapositiv betrieben werden können? Hier muss erstmal in den Köpfen der Entscheider ankommen, dass die „Tank-to-Wheel" Betrachtung dringend durch „Production-to-Wheel" ersetzt werden muss. Strom kommt nun mal nicht „einfach so" aus der Steckdose – auch wenn selbst der Dr. der Biologie Toni Hofreiter das glaubt.

Hej, Ola Källenius,

Ich würde gerne mit Ihnen reden! Darüber, dass weder der Energiebedarf für die Elektromobilität gedeckt wird, noch der Strom in vertretbarer Zeit zu vertretbaren Kosten mit einigermaßen vertretbarem Wirkungsgrad am Auto ankommt und diskutiere danach gerne mit Ihnen, was den Mythos der Marke Mercedes-Benz ausmacht! Besinnt Euch auf Eure Wurzeln und baut Autos, von denen Ihr überzeugt seid und nicht Luisa Neubauer, der es sowieso niemand aus der Branche recht machen kann, wenn er sich nicht konsequent gegen das Auto stellt.

Sich neben dem „Zu-Tode-Sparen", „Tesla-zum-Benchmarkt-Erklären" auch noch von radikalen Umweltverbänden die Marschrichtung diktieren zu lassen, dürfte wohl ein Fehler mit langfristigen Folgen sein. Konzentriert Euch lieber auf das, was Ihr immer besser konntet, als jeder andere Hersteller: Entwickelt und verkauft die besten Autos der Welt mit unverwechselbarem Charakter und technischen Lösungen, die andere Hersteller zu Followern machen. Steht auf und übernehmt wieder die Führungsrolle in der Automobilindustrie, auch wenn das unbequem und risikobehaftet ist. ...auf jeden Fall ist es aber besser, als abzuwarten und weitere Ladenhüter wie den EQC zu entwickeln, bis die Welt von alleine wieder in Ordnung kommt. Das wird nämlich nicht passieren und bis dahin scheinen andere das Geschäft mit Elektroautos, die im Grunde keiner will, besser zu verstehen.

Jag önskar verkligen att detta kommer att påbörjas under de närmaste åren. Jag önskar er lycka och framgång,

din,

Christian Nikolai 

Der Kommentar gibt nicht zwangsläufig auch die Meinung der Redaktion wieder. Vielmehr lädt die Redaktion in loser Folge Zeitgenossen aus der Branche ein, Tagesaktuelles oder ein anderes Thema frei zu kommentieren. Der Redaktion geht es dabei nicht darum, den eigenen Standpunkt zu verbreiten, sondern zur Diskussion anzuregen.

Seit 2020 arbeitet Christian Nikolai mit seiner Firma „RaumLenker MotorConsult“ als Consultant. Für mehr Selbstbewusstsein und Cojones in der Automotive Kommunikation, für Zukunft, die Herkunft braucht, für neue Konzepte und Wege, die bisher noch nicht gegangen wurden. Christian hat sich mit RaumLenker MotorConsult und der Erfahrung aus über 20 Jahren im Vertrieb und Marketing bei Mercedes-Benz Händlern und der Daimler-Konzernzentrale unter dem Leitbild „Zukunft braucht Herkunft“ auf die Entwicklung von maßgeschneiderten Kommunikations- und Vertriebskonzepten in der Automobilindustrie spezialisiert. Christian schreibt regelmäßig für Mercedes-Fans – u.a. die Serie …3, …2, …1, meins: Der Zombie-Kombi.

Daimler & Elektromobilität Medien kritisieren neuen Kurs: Wiederholt Källenius Zetsches Fehler? Der Daimler ist in der Krise. Die Medien haben den Schuldigen ausgemacht: Zetsche war`s. Und sie fragen kritisch: Wiederholt Källenius jetzt Zetsches Fehler?

4 Kommentare

  • thenze

    Thenze

    Auch ich muss pano Recht geben - guter Kommentar. Es gibt heutzutage zu viele Einflussfaktoren, die das Geschäft bestimmen. Allein die unterschiedlichen Anforderungen und Kundenwünsche der gesamten Welt. Und letzten Endes muss alles auch finanziert werden. Wenn man sich das aktuelle Produktportfolio einmal anschaut, kann man da mit Sicherheit das eine oder andere Modell streichen (auch wenn das hier und da sehr schade sein mag!) - aber es darf kein Zuschussgeschäft sein. Schon aus Verantwortung der Mitarbeiter gegenüber. Auch ich habe viele Jahre in der Daimler Organisation verbracht und schätze Herrn Dr. Zetsche und sein Handeln sehr - doch auch er hat oder musste unprätensiöse Entscheidungen treffen. Wie im Fussball wissen 83 Mio alles besser! Christian Nicolai hat in vielen Punkten Recht, aber ganz so einfach ist es eben nicht!
  • Pano

    Pano

    So richtig überzeugt hat mich der Kommentar von Herrn Nikolai nicht. Von jemanden, der lange beim Daimler gearbeitet hat und womöglich noch gute Kontakte zum ehemaligen Arbeitgeber pflegt, hätte ich zunächst mehr erwatet als ein paar "Früher war alles besser"-Räuberpistolen. Gefühlt wie James Bond? Hat man bei DC damals etwa doch nicht Autos verkauft sondern Flugzeugträger? Das erweiterte Produktportfolio kann man kritisieren. Aber das ging schon Mitte der 90er mit der ersten Produktoffensive los und die wurde in den folgenden Jahrzehnten fortgesetzt. OK kann man da keinen Vorwurf machen. Vielmehr darf er nun das Portfolio straffen. Auch daß der Schwerpunkt auf Elektro gesetzt wird hat schon vor seiner Zeit als CEO begonnen. Die CASE-Strategie in der das "E" für "Elektrifizierung" steht hat ihren Ursprung in der Zetsche-Ära. Zugegeben, der Marketingsprech vom "IPhone auf Rädern" ist daneben. Aber bei der Markteinführung des W 176 in 2012 wurde das Thema auch schon gestreßt. Sanieren und Sparen ist ebenfalls keine Erfindung der Jetztzeit. Der kurz erwähnte Wolfgang Bernhard hat einmal zu oft Daimler als Sanierungsfall bezeichnet. Hat ihn den Job als möglichen Schrempp-Nachfolger gekostet. Heute wäre er damit ganz weit vorne. Völlig inakzeptabel finde ich es einen Großteil der Belegschaft als rückgratlose Ja-Sager darzustellen. Das ist nicht nur billiger Populismus. Das ist auch respektlos gegenüber denen, die ihrer Verantwortung gerecht werden und in dieser beispiellosen Zeit den Laden am Laufen halten. Wirklich interessant wird Herr Nikolais Kommentar hingegen wenn er die unangenehmen Fragen stellt. Läuft Mercedes wirklich Gefahr zum Fast Follower zu werden? Ist man wirklich dabei die Marke zu Tode zu sparen? Ist tatsächlich nicht das Selbstvertrauen da die Führungsrolle in der Autowelt einzunehmen? Da wäre es cool wenn OK das Gesprächsangebot annehmen würde um diese Themen zu diskutieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Es braucht bestimmt immer noch reichlich Eier in der Hose um einen Dax-Konzern zu leiten. Es könnte aber sein, daß in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts eine andere Art von Cojones gefragt sind um erfolgreich zu wirtschaften. Grüße Pano
  • R129Fan

    R129Fan

    Danke für diesen Kommentar, der mir voll aus der Seele spricht.
  • egide aus belgien

    Egide aus belgien

    Den Oberarm freigemacht, und Stern-Tätowieren das habe ich schon seit viele jahre gemacht, Mercedes-Benz-Guy mit Herz, und Christian Nicolai gratuliere fur die Wahrheit.

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