Äußerlich betrachtet sehen das 280 SE 3.5 Cabriolet in Silbermetallic und das 280 SE 3.5 Coupé in Rotmetallic aus wie ganz normale Spezies der W 111-Baureihe in Cabriolet- und Coupé-Version. Doch beide weisen eine gemeinsame, unsichtbare Besonderheit auf: Sie sind jeweils die Nummer 1 ihrer Art.
Das Coupé ist der erste je für den Verkauf gebaute W111-Zweitürer mit dem 3,5 Liter-V8-Motor, ausgeliefert am 26. August 1969, rund drei Monate vor Anlauf der Serienproduktion. Und das Cabriolet ist das erste und einzige ab Werk ausgelieferte offene Auto der W111-Baureihe mit hydraulisch betätigtem Verdeck. Sie beide sind unwiederbringliche Zeitzeugen.
Es ist nicht laut, überladen und protzig
Bereits 1961 zur Eröffnung des damaligen neuen Mercedes-Benz Museums vorgestellt, hatte das Coupé (wie auch das etwas später präsentierte Cabriolet) dank der optischen Eingriffe von Designer Paul Bracq, die meisten modischen Attribute, wie etwa die chromverzierten Heckflossen, abgelegt. So lobte „auto motor und sport“ im Jahr 1961:
„Weil es von Daimler-Benz kommt, ist es nicht laut, überladen, protzig: Ganz schlicht und unaufdringlich steht es da und bezieht seine Wirkung aus der Ordnung des harmonisch Gegliederten.“
Noch heute wirken ihre Formen aktuell – und keinesfalls „altmodisch“. Die 3,5 Liter-Coupés und Cabriolets spielten eine Sonderrolle: Ab November 1969 in Serienproduktion, entstanden die ersten Exemplare bereits im August 1969. Mit 1.232 bis Juli 1971 gebauten Wagen gab es vom 3,5-Liter-Cabriolet weniger als die gebauten 1.858 Einheiten des 300 SL Roadsters, und das in 3.270 Stück gebaute 3,5-Liter-Coupé bringt es auf genau 12 Exemplare mehr als 300 SL Roadster und Flügeltürer mit ihrer Stückzahl von insgesamt 3.258.
Das Coupé mit der Nummer 1 wird ersteigert
Das erste je gefertigte 3,5-Liter-Coupé vom 26. August 1969 ist heute noch erhalten – Klaus Kienle hat dieses Auto bereits 2014 bei einer Auktion entdeckt, nachdem es seit 1971 in den USA und dort seit 2005 unbewegt in einer Sammlung stand. Kienle erkannte den historischen Wert der „Nummer 1“ und ersteigerte es nach nur kurzer Besichtigung. Dass er damit einen guten Griff getan hatte, zeigte sich später bei der Restaurierung.
Die Fahrgestell-Endnummer 000001 weist das rot metallic lackierte Coupé als erstes Exemplar des 280 SE 3.5 Coupés aus. Der geschmeidig laufende V8-Motor mit elektronisch geregelter Bosch D-Jetronic-Saugrohreinspritzung leistet 200 PS und sorgt für ansprechende Fahrleistungen: Neun Sekunden für den Spurt auf 100 km/h und eine Höchstgeschwindigkeit von 210 km/h sind Werte, die 1969 denen eines Porsche 911 E entsprachen.
Graf von Berckheim bestellt das Cabrio bei der Daimler-Benz AG
Auch das 3,5-Liter-Cabriolet kann sich sehen lassen, obwohl es sich noch in unrestauriertem Originalzustand befindet. Es wurde früher (vermutlich im Werk) von Beige auf Silber umlackiert. Doch mit seinem Hauch von Patina übt es einen ganz besonderen Reiz aus – und überrascht Kenner der W111-Baureihe: Sein Dach muss nicht in Handarbeit auf- und zugeklappt werden, sondern öffnet und schließt sich hydraulisch nahezu geräuschlos per Knopfdruck. Dass es in der Geschichte der W111-Baureihe ein solches Automatik-Verdeck gab, wissen nur eine wenige Spezialisten.
Philipp Constantin Graf von Berckheim (1924 bis 1984) hatte dieses spezielle Cabriolet bei der Daimler-Benz AG in Auftrag gegeben – und ließ das Einzelstück erstmals im Oktober 1969 zum Straßenverkehr zu. Graf von Berckheim war in den 1950er-Jahren Rennfahrer und einer der ersten Käufer des Mercedes-Benz 300 SL. Wegen einer aus einem Unfall herrührenden Querschnittslähmung ließ er das hier gezeigte Cabrio nicht nur mit dem hydraulischen Verdeck ausrüsten, sondern auch behindertengerecht umbauen. Mercedes-Designer Paul Bracq, der sich selbst eher als „Maître Carossier“ – als Karosseriebaumeister – sieht, hat die schlichten Formen des W 111 Coupé und Cabriolet maßgeblich gestaltet.
Die Auktion
Wenn sich bei Klaus Kienle während einer Klassiker-Auktion im Juli 2014 nicht das Bauchgefühl geregt hätte, wäre die Automobilgeschichte womöglich um eine Fußnote ärmer. Dann wäre er unter Umständen kein Risiko eingegangen und hätte den hier präsentierten Mercedes-Benz 280 SE 3.5 Coupé vielleicht gar nicht ersteigert. Denn an eine gründliche Prüfung vor dem Kauf war nicht zu denken. So kalkulierte er von vornherein einen großen Betrag für Restaurierungsarbeiten mit ein und ersteigerte den Wagen. Kienle hat den richtigen Sachverstand und sofort erkannt, welchen historischen Wert dieses Auto hat. Schließlich ist er das erste von der Daimler-Benz AG gebaute Achtzylinder-Coupé der W111-Baureihe. Fertiggestellt wurde es am 26. August 1969, ausgeliefert am 5. April 1971 an die Firma Automarkt Passau (siehe Datenkarte), heute Mercedes- Vertragshändler. In der Zwischenzeit diente es als Pressewagen. Bei der Restauration traten erstaunliche Indizien zutage, die interessante Schlaglichter auf die Geschichte werfen.
W111 Coupé mit M116 für Pressevorführung
Es gehört zur Kienle Philosophie, einen Klassiker erst nach eingehender Untersuchung mit Teildemontage oder gar erst nach kompletter Restaurierung zum Auslieferungszustand anzubieten. Das gilt auch für dieses Auto, und so ging es in der Kienle Werkstatt flugs an die Arbeit. Bei dem Coupé in der Mercedes-Farbe 571 (rot metallic) stießen die Kienle Karosseriebauer schon bald auf einige erfreuliche Details: Auf dem Getriebetunnel beispielsweise schimmerte nach dem Entlacken der handschriftliche Vermerk „Pressewagen“*. Der endgültige Beweis, dass es sich um ein Presse-Fahrzeug handelt, fand sich in Form des werksinternen Produktionsauftrags vom 29.5.1969, „W111 Coupé mit M116 für Pressevorführung“.
Darin heißt es: „Der Wagen ist vom Hauptbetrieb in Zusammenarbeit mit der Arbeitsvorbereitung aufzubauen. Die abweichenden Bauteile für facelifting und Einbau M116 V-Motor werden in der Arbeitsvorbereitung-Werkstatt angefertigt und dem Rohbau zum Einbau angeliefert.“
Sollte der Wagen eigentlich nach Großbritannien gehen?
Als vorgegebener Fertigstellungstermin war der 28.7.1969 aufgeführt. Die Fahrgestellnummer trägt bereits die Ziffernkombination 026 nach der Baumuster-Grundbezeichnung W111, mit der später nach Serienanlauf alle 3,5 Liter-Coupés versehen waren. Einige für Rechtslenker typische Bohrungen im rechten Längsträger lassen die Vermutung zu, dass vielleicht daran gedacht wurde, den Wagen nach Großbritannien zu schicken.
Oder handelte es sich um den Rahmen eines Rechtslenker-Modells? Auch die keilförmig aus den Längsträgern vor den Hinterradaufhängungen herausragenden Bremsmomentabstützungen, die für das 300 SE-Fahrwerk mit Luftfederung typisch sind, lassen vermuten, dass vielleicht sogar ein Luftfeder-Fahrwerk angedacht worden war.
Es hilft nur eine Totalrestaurierung
Die Ausstattung war üppig: Die Heckscheibe ist elektrisch heizbar, es gibt eine Klimaanlage („Kühlanlage“), ein elektrisches Schiebedach, Servolenkung, Automatik-Getriebe, Sicherheitsgurte vorne und hinten, eine automatische Antenne, und, und, und. Ernüchterung kam indes bei den Kienle Spezialisten auf, als es an die Substanz des Wagens ging: Viele Bleche, viele Aggregate und Ausstattungsteile waren von Korrosion, Verschleiß oder einfach nur Alterung so stark mitgenommen, dass man sich zur Totalrestaurierung entschloss. Klar, dass besonders bei einem solchen historisch wichtigen Auto penibel darauf geachtet wurde, so viel wie möglich der Originalsubstanz zu erhalten und nur solche Teile oder Karosseriepartien durch Neuteile oder Nachfertigungen zu ersetzen, die unrettbar defekt oder verrottet waren.
Zurück in den Auslieferungszustand
Nach dreijähriger Anstrengung war das Coupé schließlich zum Auslieferungszustand restauriert. Nur Kleinigkeiten, die aber mit geringem Aufwand reversibel sind, hat Kienle geändert: So rollt das Coupé nunmehr auf Reifen der Größe 205/70 VR 14 anstelle der früheren 185 V 14 (6 PR) (auf Wunsch: 185 VR 14), und die hohen Leuchteinheiten (unter Kennern als „Kirchenfenster“ bekannt) wurden gegen die von vielen Enthusiasten als attraktiver empfundenen Doppelscheinwerfer ersetzt.
Generalüberholung für den Motor
Der stark verschlissene und von Standschäden gezeichnete Motor erfuhr eine Generalüberholung mit Ersatz aller nicht mehr einwandfreien Verschleißteile. Gleiches gilt für die Aggregate und Mechanik des Fahrwerks, insbesondere der Bremsen und der Radaufhängungen. Und nachdem die Sattler auch den Innenraum aufgefrischt haben, scheint es, als ob die Zeit auf das Auslieferungsdatum zurückgedreht sei. Schauen Sie sich die Fotos auf diesen Seiten an und vergleichen Sie sie mit denen der Titelstory: Dann können Sie ermessen, wie viel Arbeit in diesem Einzelstück steckt …
Es werde Luft
Was selbst bei genauerem Hinsehen wie ein handelsübliches 280 SE 3.5 Cabriolet aussieht, ist viel mehr als nur ein Auto mit aufklappbarem Dach: Dieser in silber metallic lackierte Mercedes- Benz ist ein automobilhistorisches Denkmal. Als erstes und einziges Cabriolet der Heckflossen-Modellreihe W 111 mit hydraulisch betätigtem Verdeck ist es ein unwiederbringliches Stück Automobilgeschichte. Es zeigt, welche aufwendigen Einzelstücke die damalige Daimler-Benz AG in jener Zeit auf Wunsch besonderer Kunden zu bauen willens und in der Lage war. Entstanden ist das Unikat im Mercedes-Benz-Hauptwerk Sindelfingen in Zusammenarbeit der Produktion mit diversen Abteilungen des Pkw-Versuchs an den Standorten Untertürkheim und Sindelfingen ab dem 2. Dezember 1968.
Ein 280 SE Cabriolet für den rennfahrenden Grafen
An jenem Datum erstellte die „Versuchsabteilung Sifi“ den Produktionsauftrag für „C111 Cabriolet LL mit „face lifting“ für Versuch-Sifi“, basierend auf dem Karosserie-Rohbau eines Autos des Baumusters 111 025 12 mit der Fahrgestell-Nummer 003101. Kenner wissen es: 111 besagt, dass es sich um ein Heckflossen-Modell handelt, 025 steht für den Typ 280 SE Cabriolet, und die 12 bezeichnet einen Linkslenker mit Automatikgetriebe. Rund 10 Monate nach Auftragserteilung war das Auto fertiggestellt und konnte am 8. Oktober 1969 erstmals zum Verkehr zugelassen werden. Käufer und Auftraggeber des Solitärs war niemand Geringerer als Philipp Constantin Graf von Berckheim (1924-1984), der sich zu Beginn der 1950er Jahre einen guten Namen als erfolgreicher Rennfahrer gemacht hatte.
Spezialanfertigungen von Mercedes-Benz
Der nach einem Verkehrsunfall querschnittsgelähmte Adelige wollte trotz seines Handicaps nicht aufs Autofahren verzichten und ließ sich folglich spezielle Fahrzeuge der Marke Mercedes-Benz anfertigen. Gegenüber dem serienmäßigen 280 SE Cabriolet, das als Basis diente, führte die Mercedes-Benz Versuchsabteilung grundlegende Änderungen durch, um den Wunsch des Grafen auch nach üppigen Fahrleistungen zu entsprechen. So ersetzten sie den ursprünglich eingebauten 2,8-Liter-Einspritzmotor des Baumusters 130 980 mit 160 PS durch die 3,5-Liter-V8-Maschine mit 200 PS (Baumuster 116.980) des sich damals noch im Versuchsstadium befindlichen 280 SE 3.5 Cabriolets.
Einzigartig: Das hydraulische Verdeck
Dazu waren umfangreiche Änderungen nötig: Das Getriebe, die Hinterachs-Übersetzung und die Verkabelung mussten umgebaut bzw. ersetzt werden. Zusätzlich waren auch Karosserie-Änderungen nötig, und die Bedienelemente mussten behindertengerecht gestaltet werden. Zu den wichtigsten Änderungen zählt auch die Installierung eines hydraulisch betätigen Verdecks, das sich per Schalter am Armaturenbrett öffnen und schließen lässt. Der Graf liebte es, offen zu fahren und sich bei Gelegenheit auch chauffieren zu lassen.
Um dieses Hydraulik-Dach zu konstruieren und zu bauen, nutzten die Sindelfinger Techniker das Know-how, das sie bei der Konstruktion und Entwicklung des seit 1963 gebauten Mercedes-Benz 600 gesammelt hatten: Der Luxuswagen ist mit vielen Hydraulik-Elementen zur Steuerung der Komfort-Ausstattung bestückt – und einige Details dieser Hydraulik-Bauteile finden sich im 280 SE 3.5 Cabriolet des Grafen von Berckheim wieder.
Einzelstück in unrestauriertem Originalzustand
Noch heute funktioniert diese Konstruktion einwandfrei, lediglich die Einrast-Vorrichtung am vorderen Rahmen des Verdecks wurde bei Kienle Automobiltechnik vor vielen Jahren instand gesetzt. Als Philipp Constantin Graf von Berckheim im Jahr 1984 starb, ging der Wagen in den Besitz seines Sohnes, Constantin Christian Graf von Berckheim über, der das Unikat nach einigen Jahren des Stillstands an Kienle verkaufte. Kienle wusste schon damals, um die historische Bedeutung des Unikats, setzte nur die Mechanik instand und rüstete die behindertengerechten Bedienelemente auf Normalstandard zurück. Ansonsten beließ er das Einzelstück in unrestauriertem Originalzustand.
Zwei Träume auf Rädern in echter Mercedes-Benz Qualität
Lediglich eine neue Dachhaut – selbstverständlich aus originalem Sonnenland-Stoff – frischten das Original auf. Auch sein heutiger Besitzer, der diesen den Solitär noch zu D-Mark-Zeiten von Kienle erwarb, ist sich seiner Verantwortung bewusst: Er hegt und pflegt den Wagen. Selbstredend sieht der Mercedes-Fan sein Auto nicht als „Stehzeug“, sondern nutzt es bei schönem Wetter auch als besonders exklusives Fahrzeug, nicht um des Genusses willen, sondern auch, um Standschäden vorzubeugen. Als er den Wagen erwerben konnte, hatte dieser 121.000 Kilometer zurückgelegt, heute zeigt der fünfstellige Kilometerzähler 45839 an, also 145.839 Kilometer. Dass der nunmehr 48 Jahre alte Wagen sich noch in einem derartig guten Zustand befindet, ist ein Beweis für die Mercedes-Benz Qualität jener Jahre, zeigt aber auch, dass sein Besitzer ihn in jeder Hinsicht wertschätzt.
Das 280 SE 3.5 Coupé bei der 5. MIB-Rallye
Im letzten Jahr ist das Mercedes-Benz 280 SE 3.5 Coupé mit der Fahrgestellnummer 000001 sogar bei der 5. MIB-Rallye mitgefahren. Die Rallye Edition "DeLux" führte 2019 erstmals von Deutschland nach Luxemburg. Auch in diesem Jahr werden die Teilnehmer der MIB-Rallye wieder ein Nachbarland besuchen. Gestartet wird bei BRABUS in Bottrop und im Anschluss geht es über den brandneuen Mercedes-Benz Flagshipstore Den Haag in das Louwman Museum. Wer möchte kann sich zur 6. MIB-Rallye noch anmelden. Alle Infos findet ihr unter www.MIB-Rallye.de.
Keine Kommentare
Schreibe einen Kommentar