Der Mercedes-Classic-Spezialtransporter hat mich erwartungsgemäß gemeinsam mit meinem Weggefährten sicher nach Fellbach gebracht und im Classic-Center abgesetzt. Dort angekommen erging es mir genauso wie euch Menschen, wenn ihr euch in die Klinik zur Notaufnahme begibt. Erst mal hieß es hinten anstellen und so kam es, dass ich gleich in einen großen Wartesaal gebracht wurde, wo ich unter meinesgleichen geduldig abwartete, bis ich an die Reihe kam.
Diese Zeit wurde mir dadurch versüßt, dass es sich um eine der so genannten Heiligen Hallen handelte, und dass meine Nachbarn größtenteils keine Geringeren waren als die wahren Schätze der werkseigenen Sammlung, die unter ihren Planen darauf warteten, um bei Ausstellungen oder besonderen Anlässen wieder einmal Alltagsluft zu schnuppern. Da hatte ich es besser, weil ich ja wusste, dass ich nach meiner Kur wieder in die immerwährende Freiheit entlassen werden würde!
In den Heiligen Hallen des Mercedes-Benz Classic Centers
Als dann die Zeit des Wartens zu Ende war, wurde ich in die Werkstatt des Classic-Centers überführt, wo ich die ganze Zeremonie der großen Zustandsaufnahme geduldig über mich ergehen ließ. Ich wurde vorne und hinten angehoben, ganz in die Luft balanciert, durchgerüttelt und meine Gelenke wurden auf Verschleiß und Funktion geprüft. Keine Öffnung, in die nicht das Auge irgendeines Experten hineinlugte! Kein Hohlraum wurde ausgelassen, und alles, was aufgeschraubt werden konnte, wurde geöffnet, und nichts sollte den prüfenden Blicken entgehen. Wie in einer Krankenakte wurde in einer zehn Seiten langen Checkliste alles akribisch genau notiert. Ich wurde zusammenfassend in Außen- und Innenbereich, Technik, Bodengruppe-Achsen sowie Sonstiges mit jeweiligen Unterbereichen eingeteilt.
Diagnose wie ein Schulzeugnis
Am Ende stand sie fest: Die Diagnose - einem Richterspruch ähnlich stand sie drohend und unwiderrufbar auf dem Befundblatt, ganz wie die Examensresultate bei den Studenten. Wie in der Schule gab es Noten von sehr gut und gut, über mittelmäßig zu schlecht. Meine beste Note war mittelmäßig, die anderen schlecht. Das Beste an mir war das Fahrerhaus, aber alles was darunter war, gab genügend Anlass zu jeder Menge Sorgen. Die Noten gut und sehr gut waren Fremdwörter. In der Schule hätte ich nachsitzen müssen.
Als mein Besitzer wegen meiner Noten herbeigerufen wurde, wurde ihm eine zwei Seiten lange Liste mit Reparaturempfehlungen vorgelegt. Mein Zustand war kritisch, aber nicht aussichtslos, und mit Zustimmung meines Besitzers wurde es als nicht unbedingt erforderlich angesehen, dass meine Verjüngungskur hier erfolgen müsste. Ich ging also wieder auf die Reise, und zwar zurück in meine erste Heimat, die Schweiz, wo ein anerkannter Restaurator mich in seine Obhut nahm.
Restauration in der Schweiz
Als Erstes wurde ich geschieden (wenn der Zusammenbau von Karosserie und Fahrgestell Hochzeit heißt, dann muss das, was jetzt mit mir geschah, wohl Scheidung heißen!). Auf diese Trennung hin erfolgte eine große Zerlegungsaktion meiner Mechanik. Es blieben keine zwei Teile mehr aneinander und alle Komponenten wurden in entsprechend beschriftete Kisten verteilt. Ich fragte mich, ob die wohl wieder alle an ihren richtigen Platz kommen würden! Nicht mehr wieder verwertbare Kleinteile wurden gleich aussortiert und füllten mehrere Kartons. Als Ersatz wurden neue bestellt insofern es deren noch gab, der Rest wurde in oft mühseliger Präzisionsarbeit nachgefertigt.
Alle Metallteile, ob groß oder klein, wurden gereinigt oder sandgestrahlt und ihrer Beschaffenheit und Bestimmung entsprechend in Neuzustand versetzt. Motor, Getriebe, Schaltung, Achsen und Bremsen kamen in den Genuss einer Generalüberholung, bevor das ganze Riesenpuzzle wieder zusammengesetzt wurde. Was sich hier in Kurzfassung schnell liest, hat jedoch die meiste Zeit meiner Restauration in Anspruch genommen, weil längere Wartezeiten in Kauf genommen werden mussten, wenn Teile nicht so schnell geliefert werden konnten, wie sie gebraucht wurden, oder wenn bei Auftragsarbeiten noch andere Kunden Vorrang hatten. Mein Besitzer kam mich zwischendurch einige Male besuchen, um sich über den Fortgang meiner Genesung zu erkundigen und um bei der Planung der jeweils fälligen größeren Operationen dabei zu sein.
Zeitintensive Arbeiten an dem Mercedes-Oldtimer
Es wurde in zwei Operationssälen gleichzeitig an mir gearbeitet: Auf der einen Seite wurden Fahrgestell und Mechanik behandelt, und auf einer anderen ging es meinem Fahrerhaus an den Leib. Da ich noch nicht in Ganzstahlbauweise entstanden bin, sondern unter meiner Haut ein Holzskelett trage, auf das das Blech aufgebracht wurde, war es nicht verwunderlich, dass außer jeder Menge Rost auch noch so manches morsche Holz ans Tageslicht kam.
Mit der nötigen Sachkenntnis und entsprechendem - jedem Ungeduldigen wie meinem Besitzer endlos lang erscheinenden- Zeitaufwand, konnten auch diese Alterskrankheiten geheilt werden. Im Vergleich zu diesen großen und lebenserhaltenden Operationen erschienen die Behandlung einiger kleinerer Rostgeschwüre im Blech und das Zusammenfügen der verschiedenen Karosserieteile schon fast als Kleinigkeiten, wenn da nicht die Beschaffung der zur Verschönerung und zum Auffüllen der Spalte zwischen Kotflügeln und Seitenwänden benötigten Keder uns alle auf eine lange Geduldsprobe gestellt hätten!
In der Zwischenzeit war ohne große Zeremonie die Hochzeit meines Fahrgestells mit dem Fahrerhaus ein zweites Mal in meinem Leben vollzogen worden, und seit langer Zeit fühlte ich mich wieder wie ein richtiges und vollständiges Automobil. Die Erneuerung meiner total vergammelten Teppiche, sowie die Aufpolsterung der Sitze und das Auffrischen des Leders waren dann wirklich im Handumdrehen erfolgt und stellten den krönenden Abschluss aller Bemühungen dar. Rechtzeitig zur Oldtimersaison ist meine Kur abgeschlossen, und aus einem Haufen klappernden Metalls, der fast nur noch durch Rost und Spachtel zusammengehalten wurde, und der dank seines gepflegten Lacks mehr Schein als Sein war, bin ich wieder auferstanden.
Zweiter Frühling für den Mercedes-Klassiker
So wie die Obstblüte in voller Pracht erstrahlte, als mein Besitzer mich Ende April 2009 wieder abholte, so blühte auch ich wieder auf und erlebte zum zweiten Mal in dieser Geschichte einen neuen Frühling und rufe euch voller Freude entgegen: Hallo, ich bin wieder da!
Text: Friedrich W.Thüner, Guy Muller, V170
Fotos: Friedrich W.Thüner, Guy Muller
PS: Die ersten beiden Teile der Geschichte des Mercedes-Benz 170V Roadsters finden Sie hier:
Teil 1: Mercedes-Benz W136 - Wenn ein Stern erzählt
Teil 2: Wenn ein Stern erzählt
: Abenteuer und Kapriolen
Mercedes-Fans Facts
1936 Mercedes Benz 170 V Sport-Roadster (W 136)
Antrieb: Reihenvierzylinder, 1697 ccm, 38 PS bei 3400 U /min, Viergang-Schaltgetriebe, Hinterradantrieb
Räder: Stahl-Tiefbettfelgen, 3,25 D x 16 mit Diagonalreifen 5,25-16
Fahrwerk: Vorne obere und untere, quer verlaufende Blattfeder, hinten Pendelachse mit Schraubenfedern , Trommelbremsen vorn und hinten
Sonstiges: Ganzstahlkarosserie auf x-förmigem Ovalrohr-Rahmen, Innenraum: Serie
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