Mittelklasse das ist kein wirklich schönes Wort. Klingt nach Mittelmaß, Durchschnitt, emotionalem Ödland. Weder kalt, noch warm, nicht wirklich Nord, kein bisschen Süd, sondern irgendwo dazwischen. Quasi unentschieden und das ist noch die hübschere Schwester von unentschlossen.
Doch irgendeinen Namen musste sie schließlich bekommen, die automobile Gattung, die größen-, preis- und prestigemäßig in etwa mittig zwischen Smart und Maybach rangiert. Ihr Namensgeber? Unbekannt, aber vermutlich ein Deutscher. Ein derartiges Gespür für treffende aber nicht unbedingt wohlklingende Wortschöpfungen gedeiht nur auf teutonischem Boden. Da hilft auch der Zusatz obere in etwa soviel, wie ein Fächer in der Wüste.
Hätte Mercedes nur ein bisschen mehr Glück gehabt, in etwa so viel wie die Kollegen aus Wolfsburg, dann gäbe es heute ein gutes Stück über der Golf-Klasse nicht nur produkt- sondern auch gattungstechnisch eine E-Klasse. An der Tradition kann es jedenfalls nicht gelegen haben. Hier hat die E-Klasse, respektive ihre Vorgänger, gleich mehrere Jahrzehnte Vorsprung auf den Käfer-Nachfolger.
1901: Der Anfang der Mitte
Der E-Stammbaum lässt sich mit etwas Weitsicht bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts zurückverfolgen. Schon die ab 1901 auf den Markt kommenden Ur-Typen der Marke gibt es in verschiedenen Versionen, die ein unterschiedliches Publikum ansprechen. Darunter auch Varianten, die nach heutigen Maßstäben in die obere Mittelklasse einsortiert würden.
Die Klassen-Strategie setzt sich in den Folgejahren fort. 1914 entsprechen bereits vier von zehn Mercedes-Typen den späteren Mittelklasse-Kriterien. Der Rote Faden lässt sich auch im Anschluss an die Fusion der Daimler-Motoren-Gesellschaft und der Benz & Cie. im Jahre 1926 problemlos verfolgen: Die Typen Stuttgart 200 bzw. 260 dürfen als so etwas wie die Urgroßväter der modernen E-Klasse gelten.
Die nächsten, hochbegabten Mittelklässler kommen in den 1930ern zur Welt. Ihre Namen: 200, 260 und 260 D. Gerade letzterer ist aus heutiger Sicht eine typische E-Klasse. Typisch deshalb, weil sein Dieselmotor der weltweit erste in einem Pkw ist. Innovationen und Weltpremieren, sei es in punkto Sicherheit, Komfort oder Effizienz, werden fortan so dominant durch alle Generationen der E-Klasse vererbt, wie gepunktetes Fell bei Leoparden.
Der 170 V ein typischer E
1947 bringt Mercedes den Typ 170 V unters Volk. Oder genauer gesagt, die Schwaben bringen ihn wieder unters Volk, denn eigentlich stammt die Konstruktion schon aus dem Jahr 1936. Als erster Nachkriegs-Mercedes ist er so oder so ein Meilenstein. Doch Mercedes wäre nicht Mercedes, wenn man sich auf dem Erfolg dieses Modells ausruhen würde.
Konsequenterweise debütiert 1953 der Nachfolger, der auf den Namen 180 hört. Werksintern wird der Wagen als W 120 bezeichnet, eine Nomenklatur, die Freunde und Fans der Marke ebenso selbstverständlich in ihren Sprachgebrauch aufnehmen, wie die eigentliche Typenbezeichnung. Der Volksmund findet noch einen weiteren Namen: Ponton-Mercedes.
Dies verdankt der 180er seiner charakteristischen Ponton-Karosserie, deren stilsichere Rundungen ihm ein unverkennbares Alleinstellungsmerkmal sichern. Technisch gesehen handelt es sich um eine selbsttragende Karosserie, womit auch diese Generation von Mercedes-Mittelklassemodellen eine echte Großserien-Innovation aufweist.
Auf Ponton folgt Flosse
1961 erscheint der Nachfolger des 180ers der 110. Auch seine Karosserieform bleibt nicht lange ohne Kosenamen, der Wagen wird bis heute als Heckflosse bezeichnet. Tatsächlich verleihen ihm die Finnen auf den hinteren Kotflügeln einen Hauch von dem, was in Amerika zu dieser Zeit extrem en vogue ist. Doch der Mercedes ist kein Fashion Victim und treibt dieses Karosserie-Detail nicht wie seine US-Kollegen ins Extreme.
Seine Vorzüge liegen einmal mehr im Verborgenen, sprich: in zuverlässiger, moderner Technik, die ihrer Zeit zum Teil voraus ist. So wurde eine Karosseriestruktur realisiert, die den Insassen ein Höchstmaß an Sicherheit bietet. Passend dazu wird die Verglasung in seinerzeit keineswegs selbstverständlichem Verbundglas ausgeführt. Und damit speziell die Frontscheibe nicht nur sicher, sondern auch stets sauber ist, setzt Mercedes auf eine neuartige Scheibenwaschanlage mit zwei Düsen.
Der Strich-8 verdient fahrwerkstechnisch eine Zehn
Der W114 ist heute ein gesuchter Mercedes Youngtimer
1968 ist nicht nur gesellschaftspolitisch ein Jahr der Revolution. Während die Studenten protestierend durch die Straßen ziehen, läuft bei Mercedes erstmals die Baureihe 115/114 vom Band. Revolutionär ist an ihr vor allem das Fahrwerk: Es besitzt erstmals eine Schräglenker-Hinterachskonstruktion, die Mercedes als Diagonalpendelachse bezeichnet. Die mit Doppel-Querlenkern bestückte Vorderachse ist wartungsfrei. Eine weitere Neuerung, deren Design bis heute als Mercedes-typisch gelten darf, ist die Form der Mittelkonsole.
Die Bezeichnung "/8" steht übrigens für das Erscheinungsjahr 1968 und dient als Unterscheidungsmerkmal zur Vorgänger-Reihe, deren Modelle teilweise dieselben Typenbezeichnungen besaßen.
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Das andere Wort für Erfolg: W123
Den beachtlichen Erfolg des /8 kann sein Nachfolger noch übertreffen. Die intern W123 genannte Baureihe kommt dermaßen gut bei den Kunden an, dass es zu Beginn der Serienproduktion zu Lieferzeiten von mehr als einem Jahr kommt. Auch in der Folge übersteigt die Nachfrage das Angebot, so dass selbst Jahreswagen über ihrem ursprünglichen Neupreis gehandelt werden ein Vorgang, der bei (west-)deutschen Großserienfahrzeugen bis heute einzigartig ist. Ferner gelingt es dem W123 als bisher einzigem Automodell den Golf von der Spitze der deutschen Zulassungsstatistik zu verdrängen: 1980 übertrifft er den Topseller aus Wolfsburg um 1.360 Einheiten.
Der Grund für die Verkaufserfolge ist auch der bis dato ungekannten Karosserievielfalt zu verdanken die Baureihe W123 ist als Stufenheck-Limousine, Coupé und Kombi erhältlich. Verkaufsfördernd, und für Mercedes auch wirtschaftlich interessant, wirken sich die ab 1980/82 erhältlichen Optionen ABS und Airbag aus. Mit ihnen manifestiert auch diese Modellgeneration den für die E-Klasse charakteristischen technischen Führungsanspruch.
Last but not least gilt der W123 als nahezu unverwüstlich. Die ADAC-Pannenstatistik attestiert dem 82er-Baujahr des Mercedes 200 D eine Laufleistung von sagenhaften 852.777 km bis zur ersten Panne.
Velours und Holzfurnier: Die Spitzenmodelle der Mercedes-Benz Baureihe 123 (1975 bis 1985) waren edel ausgestattet.
1984: Die Geburt der E-Klasse
Vor 24 Jahren bekommen die Mercedes-Fahrzeuge der oberen Mittelklasse den Namenszusatz, den sie bis heute tragen ein groß geschriebenes E. Werksintern hört die neue Generation auf den Namen W124. Und auch sie wird zu einem enormen Erfolg: Schon in den ersten beiden Modelljahren werden rund 140.000 Einheiten verkauft. Der Grund? Nicht zuletzt das Design, das den Spagat zwischen zeitlos und eigenständig schafft.
Was Cleopatra ihre Nase, ist der ersten E-Klasse das Heck. Es weist eine kraftvolle, sich verjüngende Form auf, wobei die Oberkanten an der Kofferraumkante rund auslaufen. Typisch Mercedes handelt es sich hier nicht um einen Design-Selbstzweck, sondern um eine ausgeklügelte Silhouette, die sich im Windkanal als äußerst aerodynamisch erweist. Nicht nur schön, sondern auch schön praktisch präsentiert sich die angeschrägte Linienführung von Kofferraumdeckel und Rückstrahlern, sie sorgt für eine äußerst niedrige Ladekante. Unvergessen auch der so genannte Panorama-Scheibenwischer. Sein einzelner Arm säubert durch eine Art technoiden Hüftschwung die Windschutzscheibe bis in die Ecken.
Doch auch unter der Hülle glänzt der Wagen mit Innovationen, vor allem mit sicherheitstechnischen. Seitenaufprall- und Überschlagschutz setzen nicht nur innerhalb der Mittelklasse Maßstäbe. Auch der Fußgängerschutz wurde in der Konstruktion berücksichtigt zu einem Zeitpunkt, als andere Hersteller alle Hände voll damit zu tun haben, die Insassen in Sicherheit zu wiegen. Zu den technischen Innovationen zählen aktive Fahrhilfen wie ASR oder der Allradantrieb 4Matic. Umwelttechnisch setzt Mercedes mit dem ab 1985 für fast alle Benzinmotoren erhältlichen Dreiwege-Katalysator Zeichen.
E wie Erweiterung der Modellpalette
Den anhaltenden Erfolg ihres Mittelklasse-Modells weiß Mercedes durch attraktive Modell-Varianten weiter zu steigern. 1985 erscheint mit dem so genannten T-Modell ein Kombi auf Basis des W124. Coupé-Fans bedienen die Stuttgarter zwei Jahre später mit den CE-Typen. Und ab 1991 kommen auch die Frischluft-Fans auf ihre Kosten: Bis zu vier Passagiere können den Sommer ab sofort in einem offenen Mercedes der E-Klasse erleben.
Der 500 E ist heute bereits ein gesuchtes Sammlerstück!
Leistungsmäßig sprengt schon ein Jahr früher der Mercedes 500 E die Grenzen seiner Klasse: Ein aus der SL-Klasse entliehener fünf Liter großer V8 mit 326 PS katapultiert die Limousine in den Kreis veritabler Sportwagen. Optisch tritt der 500 E, der heute bereits als gesuchtes Liebhaberfahrzeug gilt, eher dezent auf.
Vier Augen, die nach vorne blicken
Während das große E, das ursprünglich für den Begriff Einspritzung steht, zunächst stets hinter der Typ-Zahl auftauchte, wandert es Mitte 1993 an die erste Stelle der Typenbezeichnung die offizielle Geburtstunde der E-Klasse. Zwei Jahre später präsentiert Mercedes die nächste Generation. Mit der intern W210 getauften Modellreihe verstehen es die Stuttgarter perfekt, den Charakter der E-Klasse zu pflegen und gleichzeitig zu erweitern. Das zunächst vielfach diskutierte Vieraugengesicht fügt sich schnell in den Verkehrsalltag ein, ohne in ihm unterzugehen.
Trotzdem ist es auch bei diesem Modell die Technik, die in den Blickpunkt rückt. 1997 erhält die E-Klasse eine neue V6-Motorengeneration sowie neue Sicherheitsfeatures. Dazu zählen der Bremsassistent (BAS); ASR und Sidebags für Fahrer und Beifahrer sind ab sofort serienmäßig.
In den Folgejahren setzt Mercedes das Technikfeuerwerk gekonnt fort, jedoch ohne jegliche Effekthascherei. Das Abstandsradar Distronic ist dabei ebenso richtungsweisend wie die erste Generation des so genannten Pre-Safe-Systems. Das Intelligent Light System, das die Ausleuchtung der Fahrbahn der jeweiligen Fahrsituation anpasst und das bei Vollbremsungen blinkende adaptive Bremslicht sind neuartige Beiträge zur Unfallverhütung.
Umwelt oder Außerirdisches die E-Klasse im Dienst der guten Sache
Den Zeichen der Zeit folgend, trägt Mercedes auch dem erhöhten Umweltbewusstsein seiner Kunden Rechnung. Mit dem E 200 NGT erscheint erstmals ein Erdgas betriebenes Fahrzeug in der Modellpalette, und der seit 2008 angebotene E 300 Bluetec gilt als eines der saubersten und sparsamsten Dieselmodelle der Welt.
Von soviel technischer Kompetenz lassen sich selbst geheime Regierungsbehörden überzeugen: 2002 steigen die Men in Black bei ihrem zweiten Kino-Abenteuer in eine pechschwarze E-Klasse-Limousine ein.
Auch in der Mittelklasse setzt sich Klasse durch
Was ist aber nun das Erfolgsgeheimnis, das die mittlere Mercedes-Baureihe über acht Generationen hinweg zur heutigen E-Klasse gemacht hat? Sind es die technischen Innovationen, die eigenständige Designsprache, die hohe Qualität? Der Schlüssel liegt vermutlich in der Kombination dieser Eigenschaften.
Die E-Klasse und ihre Vorgänger waren technisch immer auf dem neuesten Stand. Doch die eingebauten Innovationen hatten nicht das Ziel, technisch Machbares zu demonstrieren. Stattdessen stellten sie technisch Sinnvolles in den Dienst ihrer Fahrer. Eine E-Klasse war und ist niemals ein Spiegel des Zeitgeistes, sondern eher sein Destillat fraglos modern, aber niemals modisch. Dies alles umgeben von einer Material- und Verarbeitungsqualität, die bis heute keinen Vergleich scheuen muss.
So hat die E-Klasse heute nur ein echtes Problem und das ist der Name der Fahrzeugkategorie, in der sie sich bewegt. (Obere) Mittelklasse und E-Klasse, das passt irgendwie nicht zusammen. Denn ein Mercedes ist eh Klasse!
185 Bilder Fotostrecke | Wenig Mitte, viel Klasse: Mercedes E-Klasse - ein Blick zurück nach vorn
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