Bevor es Proteste gibt: Der E 55 AMG rollte bei unserer Ausfahrt noch auf seinen Winterrädern. Die Original-Felgen schlummerten in der (beheizten) Garage.
Wichtiger Hinweis: Dies ist kein Test. Und schon gar kein Gebrauchtwagen-Check. Vielmehr bot sich uns die seltene Chance, einem E 55 AMG, Baujahr 2003, im Alltag auf den Zahn zu fühlen. Da haben wir uns natürlich nicht zweimal bitten lassen. Was wir dabei erlebt haben und warum so ein AMG-Hammer auch für Mercedes-Fans ohne Nummernkonto spannend sein kann, lest ihr hier.
Autobahn: Stell dir vor, du bist schnell und kaum einer weiß es
Dieser E 55 AMG hat ein Problem. Oder genauer gesagt sogar zwei. Problem Nummer 1 ist: Er gehört mir nicht. Gut, dieser Mangel ließe sich vielleicht noch abstellen, schließlich rangiert der Wagen preislich nicht mehr in Schwindel erregenden Höhen. Doch davon später mehr. Problem Nummer 2: Ihm fehlt Überholprestige. Bitte nicht falsch verstehen, mir gefällt es sehr gut, dass der AMG nicht auf schrille Kriegsbemalung setzt. Understatement ist eine feine Sache allerdings nicht, wenn vor dir ein Passat Variant auf der Autobahn fährt.
"Fahr doch mal rüber...!"
Könnte im Rückspiegel druckvoller wirken: Frontansicht des AMG
Genau das ist gerade passiert. Ich laufe mit einer für den E 55 AMG gemütlichen Reisegeschwindigkeit von rund 200 km/h auf den Kombi auf. Der wird wahrscheinlich von einem termingeplagten Außendienstler pilotiert, der seinen Einsatzwagen immerhin ein aktuelles Modell für eine unbiegbare Highway-Waffe hält. Woraus ich das schließe? Nun, schlicht aus der Tatsache, dass er keinerlei Anstalten macht, rechts zu fahren. Er könnte, denn der nächste Laster ist noch gut 500 Meter entfernt. Und ich bin mit einem nicht unerheblichen Geschwindigkeitsüberschuss auf ihn aufgelaufen. Fakt ist: Er bleibt links. Warum? Ich versuche mich in seine Lage zu versetzten.
Wichtiger Hinweis für andere Verkehrsteilnehmer, der am Heck leider etwas zu spät kommt
"Also, die rund 140 Diesel-Pferde meines Passat galoppieren im Bedarfsfall locker über 200. Hinzu kommt die dicke Drehmomentwelle, die mich bei Zwischenspurts angenehm zügig nach vorne spült. Jetzt taucht da im Rückspiegel eine E-Klasse auf. Scheint aus dem vorletzten Modell-Zyklus zu sein. Ok, das Ding ist ziemlich schnell näher gekommen, wahrscheinlich wringt der Fahrer seinen Benz gerade richtig aus. Ich geb mal ein bisschen Gas. So, 190, das sollte reichen. Hm, scheint wohl doch einen dickeren Motor zu haben, denn er geht mein Tempo locker mit. Aber wenn ich jetzt rüber gehe, quält der sich bestimmt ewig langsam an mir vorbei und ich muss vor dem nächsten (LKW-)Hindernis abbremsen."
Zur gleichen Zeit im AMG: Junge, mach Platz! Dieses phlegmatische Beschleunigen ist doch albern ich fahr nicht mal Halbgas! Lichthupe? Nein, das wäre unpassend. So etwas pubertäres hat ein AMG bzw. hoffentlich auch sein Fahrer nicht nötig. Also lieber die Learning by Looking-Variante: Kurz aufs Gas, der Abstand zum Vordermann nimmt schlagartig ab und dann wieder zurückfallen lassen. Sollte der Kombi-Kapitän jetzt in den Rückspiegel ge-lookt haben, hat er hoffentlich ge-learnt, dass ich ziemlich schnell ziemlich schneller könnte.
Stellt mit großer Treffsicherheit die jeweils perfekte Übersetzung bereit: Automatik des E 55 AMG
Wer das liest ist ... nicht unbedingt doof, aber wahrscheinlich langsamer
Zurück im Kombi: "Scheint es ja doch eiliger zu haben, unser Mercedes-Fahrer. Ok, der Laster ist vorbei und bis zum nächsten gähnt eine Riesenlücke. Tue ich ihm eben den Gefallen und mache Platz. Dabei drück ich aber noch mal richtig aufs Gas, damit er sich an seinem Überholvorgang ordentlich verschluckt ..."
Reaktion im AMG: Kickdown! Der V8-Kompressor reißt den Wagen selbst bei diesem Tempo noch gnadenlos vorwärts. Selbst, wenn der Kombinator jetzt alles aus seinem Selbstzünder herausholt ich würde es nicht einmal merken.
Fantastic Four: Die vier Endrohre des AMG grollen bei Volllast herzerwärmend
Reaktion im Passat: "Ach du Scheiße, ein AMG. Boah, geht der ab! Na da ist man natürlich machtlos. Dafür verbraucht meiner weniger. Und schont die Umwelt. Und kostet weniger Unterhalt. Und hat einen tollen Wiederverkaufswert. Und ich wäre jetzt am liebsten auf Malle."
Fakt ist: Die Autobahn ist der natürliche Lebensraum eines E 55 AMG, auch wenn er von Uneingeweihten nicht schnell genug als solcher erkannt wird. Mein Tipp: Statt hoffnungslos unterlegene Diesel zu jagen, einfach Gas rausnehmen, Tempomat auf 160 einklicken, Sitzbelüftung (oder im Winter Sitzheizung) aktivieren und sich einfach tragen lassen. Auch von der Gewissheit, im Ernstfall mehr als genug Leistung abrufen zu können.
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Ampel: Grober Gasfuß vs. sensible Elektronik
Das ist Spaß für alle: Abzischen von der Grünen Ampel kann im E 55 AMG wirklich jeder. Dank Automatik und Traktionskontrolle braucht es einfach nur den entschlossenen Gasfuß, damit die Power-Limousine blitzschnell aus den Startblöcken kommt. Das Einzige, was der souveränen Beschleunigung im Wege stehen kann, ist nasser Asphalt. Dann finden die Hinterreifen einfach nicht genug Grip und der Drehmoment-Wolf 700 Nm bei 2.650 U/min verwandelt sich in ein elektronisch gezähmtes Schlupf-Lamm. Wobei dieses Lamm, gemessen an anderen Lämmern, immer noch verdammt gut zu Fuß ist.
Günstiger Kaufpreis, aber dann ...
Kommen wir zum wirtschaftlich spannenden Teil der Geschichte. Ein E 55 AMG der Baureihe W 211, Baujahr 2003, wie wir ihn gefahren haben, ist in brauchbarem Zustand ab 25.000 Euro zu bekommen. Unser Exemplar dürfte darüber liegen, denn es besitzt einige wertsteigernde Eigenschaften: Eine vergleichsweise geringe Laufleistung von 80.000 Kilometern, Ersthandbesitz und ein lückenloses Mercedes-Scheckheft.
Hier geht ordentlich was rein - und leider auch wieder raus ... Immerhin "nur " Super statt Super-Plus
Das weiß auch der Mercedes-Mann meines Vertrauens, Michael Rosendahl, von Mercedes Evertz in Kamp-Lintfort, zu würdigen: Der Wagen befindet sich im absoluten Originalzustand, das ist extrem wichtig. Technisch kann man mit dem E 55 AMG nicht viel falsch machen. Allerdings sind die Versicherungskosten erheblich und auch eine Inspektion ist nicht billig.
AMG, das könnte auch für "Anlage mit Gewinn" stehen, denn nicht mehr lange, und gute Exemplare werden zu Spekulationsobjekten
Gibt es dennoch vernünftige Argumente, die für den E 55 AMG sprechen? Der Wagen wird ab jetzt nur noch wenig an Wert verlieren, ist sich Rosendahl sicher. Bei guter Pflege und überschaubarer Laufleistung hat er absolut das Zeug zum Sammlerobjekt. Mein Tipp: Jetzt einen E 55 AMG kaufen (billiger wird er nicht mehr), auf Saisonkennzeichen anmelden (spart Inspektions- und Versicherungskosten) und die einmalige Souveränität eines Wagens genießen, um den sich Kenner spätestens in zehn Jahren reißen werden.
PS: Sollte sich jemand Hoffnungen auf diesen speziellen E 55 AMG machen: Er ist schon vergeben - leider nicht an mich ...
2 Kommentare
Mercedes-Fans.de
20. Mai 2010 11:11 (vor über 14 Jahren)
HerrLehmann
20. Mai 2010 10:03 (vor über 14 Jahren)
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