Mercedes schraubt den Entwicklungsetat zurück, treibt aber dennoch das autonome Fahren voran und will sich beim Betriebssystem des Autos nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen. „Wir stellen Software-Ingenieure ein, als ob es keinen Morgen mehr gibt“, sagt Konzernchef Ola Källenius.
Ola Källenius‘ Ankündigungen, sich auf die Luxusmodelle zu konzentrieren, sorgte für ein Erdbeben in der Automobilbranche. Jetzt legt der Mercedes-Chef nach und verkündet mehr oder weniger das Aus für die Robo-Taxis. „Das ist nicht unsere oberste Priorität“, so der Schwede. Vielmehr soll die Zusammenarbeit mit Bosch schon bald zu einem „Hub-to-Hub“ autonomen Fahren bei den großen Trucks in den USA führen. Erste Früchte dieser Zusammenarbeit sieht man schon bei der neuen Mercedes S-Klasse, die bei einem entsprechend ausgestatteten Parkhaus in der Lage ist, selbsttätig ein sowie aus zu parken und zu dem vorher festgelegten Abholpunkt zurückzukehren.
Ein ausführlicher Pilottest läuft schon am Stuttgarter Flughafen. Das Gute daran ist, dass anders als bei früher gezeigten Prototypen keine teuren Sensoren nötig sind, um dieses Fahren des Level 4 zu bewerkstelligen. Bei der neuen S-Klasse reichen die verbauten Sensoren und eine Car2X-Infrastruktur im Parkhaus, in dem statt teurer Lidar Sensoren Kameras verbaut sind. Noch viel unmittelbarer ist die Tatsache, dass Daimlers Flaggschiff schon in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres bis zu einer Geschwindigkeit von 60 km/h autonom im Level 3 sein soll. Sofern es die gesetzlichen Rahmenbedingungen erlauben. „Wir arbeiten eng mit den zuständigen Behörden zusammen“, sagt Ola Källenius, der Europa beim Wettlauf des automatisierten Fahren trotz dieses Safety First Ansatzes nicht im Nachteil sieht.
Die Anforderungen an das autonome Fahren variieren von Region zu Region. Deswegen hat Mercedes eine bei dieser Funktion eine Art technische Anwendungs-Suite in petto, die dementsprechend angepasst werden kann. Grundsätzlich sieht Källenius seine Truppe auf einem guten Weg. „Bei den herkömmlichen Szenarien sind wir schon sehr weit. Das Problem sind die unwahrscheinlichen und schrägen Ausnahmefälle, die müssen wir zuverlässig in den Griff kriegen“, so der Mercedes-Chef. Der übrigens die Tür bei der Zusammenarbeit mit BMW auf diesem Feld nicht komplett schließt. Aktuell liegt die Kooperation der beiden süddeutschen Premiumautobauer beim autonomen Fahren zwar auf Eis, aber kann laut Källenius bei Bedarf zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden.
Angeblich konnte man sich nicht auf eine Zeit-Agenda einigen, tatsächlich soll es wohl auch gravierende konzeptionelle Diskrepanzen geben. Die Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Hightech-Unternehmen Nvidia gedeiht dagegen hervorragend. Doch das Zepter beim Betriebssystem der Autos bleibt fest in schwäbischer Hand. Mercedes hat Google, Apple & Co. den Kampf angesagt und rüstet kräftig auf. „Wir stellen gerade Software-Ingenieure ein, als ob es kein Morgen gäbe“, erklärt der Konzernchef.
Der Plan, dass in zehn Jahren jeder zweite Mercedes elektrisch sein soll, bleibt bestehen. Obwohl der Entwicklungsetat aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage des Autobauers eingeschmolzen wird, bleibt Mercedes im Attacke-Modus: „Wir haben genug Feuerkraft für eine aggressive R&D-Strategie“, gibt sich Källenius kämpferisch. Und das bedeutet hauptsächlich Elektromobile. Rein elektrische Mercedes AMGs stehen vor der Tür, genauso wie der vollelektrische S-Klassen Bruder EQS, der vor allem in den USA für Umsätze sorgen soll und selbst die G-Klasse bekommt eine BEV-Version. Der Geländewagen-Stromer wird aber mehr Lifestyle-Fahrzeug für die Stadt als unverwüstlicher Kraxler sein. Flankiert wird diese G-Klasse von zwei vollelektrischen „aufregenden SUVs“ (Källenius), die auf der Eva II Plattform (Modulare Elektro Architektur MEA) basieren. Eines der beiden Modelle könnte der Nachfolger des mäßig erfolgreichen Elektro-Crossover EQC sein.
Bei der Brennstoffzelle holt sich Mercedes Volvo ins Boot. Pikanterweise gehört der schwedische Autobauer zum Konzern-Reich des chinesischen Milliardärs Li Shufu, der 9,7 Prozent der Daimler Aktien hält. „Wir wollen Volumen und Skaleneffekte schaffen“, fasst Källenius das Ziel der Kooperation zusammen. Zunächst soll die Brennstoffzelle bei großen Nutzfahrzeugen zum Einsatz kommen, wie bei einem Fuel Cell Bus, der Ende 2022 / Anfang 2023 erscheinen wird.
Auch die Motorsport-Freunde können sich entspannt zurücklehnen. Mercedes plant nicht, aus der Formel 1 auszusteigen. „Genauso wenig wie der FC Bayern München aus dem Fußball“, schmunzelt Källenius. Laut dem Mercedes-Chef wächst der Werbewert der Formel 1 rasant. Vor allem bei den 15- bis 30-Jährigen ginge dieser Image-Indikator sprichwörtlich durch die Decke. Nichtsdestotrotz bleibt das Ziel, die Königsklasse des Motorsports sozialverträglicher zu machen, bestehen. Mercedes tüftelt bereits an einem Plan, um die Formel 1 CO2-neutral zu bekommen, vermutlich auch mithilfe synthetischer Kraftstoffe. Außerdem sollen die Kosten der Teams in den nächsten drei Jahren um rund die Hälfte sinken.
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