Wenn Pilot Altfrid Heger den großvolumigen Achtyzylinder des Mercedes Youngtimers anwirft, machen alle Umstehenden erst einmal einen respektvollen Schritt nach hinten. Rund 445 PS grollen aus acht Pötten und schmettern ihren Donnerhall durch eine zweiflutige Auspuffanlage nach hinten. Man hätte es ahnen können. Der 300 SEL 6.3 schaut nämlich auf den ersten Blick schon nicht so aus, als wäre er zum Spaßen aufgelegt. Ganz im Gegenteil. Und wohl auch nicht ganz unbegründet nannte man einen entfernten Verwandten von ihm rote Sau! Also, bitte Herr Redakteur, befleißigen Sie sich doch gefälligst einer anderen Wortwahl
Legendäres 300 SEL 6.3 Debut in Spa
Würde ja gern, geht aber nicht. Denn strenggenommen beginnt unsere Geschichte 1971 mit eben dieser "roten Sau". Da ging nämlich ein ganz besonderer Stern auf und der wurde nicht nur von seinen Konkurrenten, sondern vor allem auch von seinen Piloten und seinen Technikern die rote Sau genannt.
Gründe gab es dafür mehr als genug! Man sehe sich nur einmal das Original-Foto an, auf dem der feuerrot lackierte Big Benz, pilotiert von Hans Heyer und Clemens Schickentanz im Rahmen des 24-Stunden-Rennen von Spa-Francorchamps immer mit knapper Not seine Balance zu halten vermochte. Lohn der Mühe der beiden Teufelskerle am Steuer: der rund 265km/h schnelle 300 SEL 6.3 AMG wurde Gesamtzweiter und Klassensieger. Ebenso überraschend wie im Grunde ärgerlich.
Denn es wäre vielleicht auch der Gesamtsieg drin gewesen. Aber Boxenstopps und haariges Handling forderten ihren Tribut. Der 420 PS starke 6.8 Liter soff wie ein Loch! Und berauscht von soviel Alkohol fraß die rote Sau (rechts eine Replica) das kostbare Reifengummi gleich kiloweise. Wenn man sich jetzt noch vorstellt, dass die Kollegen in den großen 2.6-Liter Capris, den Camaro Z-28 Boliden oder den BMW 2800 CS auch keine Sissys waren, dann kann man vielleicht erahnen, was es für eine Leistung gewesen sein muss, den 300 SEL 6.3 (der reglementkonform ein 6.8 war) auf den zweiten Gesamtrang zu wuchten. Eine Sensation! Wer zum Teufel macht denn soetwas mit so einem Auto? Wer ist AMG?
Wer die damals noch 14 km lange Berg-und-Tal-Bahn in den belgischen Ardennen selbst einmal am Limit überflogen ist, der kann sich sehr gut vorstellen, welch Herausforderung ein Auto wie die rote Sau in einem solchen Rennen gewesen sein muss. Respekt.
Mercedes testet das schnellste deutsche Serienauto für den Renneinsatz
Naja, die Mercedes-Rennabteilung hatte auch mit dem seinerzeit "schnellsten deutschen Serienauto" getestet. Aber das Gewicht machte den Reifen zu schaffen. Zu heikel. Mercedes beendete seine Rundstreckenambitionen mit dem 300 SEL 6.3. AMG. Oder gab es vielleicht doch Berührungspunkte? Waren die C111-Felgen der roten Sau etwa beim Daimler gekauft? Heute stecken am silbernen Mercedes-Renn-Youngtimer 15"-BBS-Felgen. Vorn 10" breit, hinten sogar 12".
Teufelsrutsch ein Name wie eine (ungute) Verheißung!
Die Fahreigenschaften waren also bestenfalls problematisch, schlimmer aber noch, sie waren ein Familienerbstück. Als ein Mitarbeiter der Mercedes-Rennabteilung später mit seinem privaten AMG 300 SEL an einem Bergrennen teilnahm, legte sein zum Renngeschoß umgebauter Direktoren-Sportwagen auch schweinöse Fahreigenschaften an den Tag. Nomen est manchmal eben doch Omen: das Bergrennen am Teufelsrutsch endete mit einem mordsmäßigen Abflug, der Benz war hin, wurde weggesperrt und vergessen. Bis ein gewisser Fred Laufer ins Spiel kommt.
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Fred Laufer macht den Schrott-Stern flott
Rennmotoren - Fred Laufer hat sie alle zum Laufen gebracht. Er war in den großen Tagen des Tourenwagen-Rennsports einer der Top-Rennmechaniker, der das ungehobelte Gehuste der hochgezüchteten Treibsätze in eine geordnete Zündfolge brachte.
Laufer betreute im Ford-Werksteam die schnellen Capris, wechselte zu den imposanten Flügel-Coupés von BMW. Laufer war verantwortlich für die Tourenwagen von Jody Scheckter, Harald Grohs, Gilles Villeneuve, Niki Lauda und anderen. Laufer fuhr selbst u.a. eine 300 SE Heckflosse im Rennsport und bis 1991 auch Prototypen. Und für AMG-Chronisten interessant: Laufer hatte schließlich die erste AMG-Niederlassung überhaupt. Und zwar in Essen! Und in diesem Zusammenhang stieß er dann auf den verunfallten Bergrenner. Einen Schub aber bekam das Projekt erst, als sich die Essener Performance Schmiede HCP für dieses Auto begeistern konnte. HCP kaufte den Wagen, Fred Laufer baute akribisch wieder auf und betreut ihn auch heute noch.
Mercedes-Fans.de ist beim Testen dabei
Als Mercedes-Fans.de zur Visite am Nürburgring vorbei kam, hatte der wortkarge Fred Laufer gerade beide Hände an der Maschine. Eigentlich mehr in der Maschine. Der Mercedes 300 SEL 6.3 war 2008 im HistoCup gut gelaufen und Pilot Altfrid Heger hatte in den ersten beiden Läufen 2009 den 1.600 kg schweren Viertürer jeweils auf dem zweiten Rang abgestellt. Jetzt war das Team zum Testen am Ring. Haben sie mir gesagt! Aber im Grunde genommen gehts doch nur darum, dass sie einen diebischen Spass daran haben, dieses Ungetüm laufen zu lassen. Zumal die aktuellen Goodyear-Reifen auch deutlich weniger Probleme mit dem Gewicht haben als ihre Vorgänger vor fast 40 Jahren.
445 Sauger-PS bei 6.200 U/min aus 6412 ccm Hubraum
Altfrid Heger bewegt das Auto auf professionellem Niveau
Seit 2000 setzt das Team HCP den ungehobelten Hünen bei Rennen ein, und das nicht ohne Erfolg, Zahlreiche Gesamtsiege und 1. Plätze sind für den Mercedes 300 SEL 6.3 mittlerweile rausgesprungen. Hier einige Ergebnisse aus der historischen FIA-Tourenwagen-Europameisterschaft:
2004 Estoril, Portugal 1. Platz,, 2005 Spa, Belgien, 6 Std. Rennen 1. Platz, 2006 Brünn, Tschechien, Super Car 500 GP , 1. Platz, 2006 Mantorp Park, Schweden, 1. Platz, 2007 Pannonia-Ring, Ungarn 1. Platz
Wie wäre wohl die Meinung der Mercedes-Fans, hätte der Kämpf-Stern eine Strassenzulassung? Wie käme der gewichtsbedingte Verzicht der kleinkind-schweren Stoßstangen dann beim Publikum an? Was würden Kenner der Materie zu den fast schon obszön üppigen Kotflügelverbreiterungen sagen, die nötig sind, um die breiten 15"-BBS-Rennfelgen aufzunehmen? Man mag mich steinigen. aber soetwas, mit dem damaligen Nonplusultra der Oberklasse zu anzustellen, ist schon fast frivol - aber im höchsten Maße interessant.
Die modernen Goodyears kommen mit dem 1,6 Tonner besser klar, als die Gummis vor 40 Jahren
Wenn dieser ehemalige Nobel-Stern auf Steroiden - leicht angestellt - den kompletten Innenspiegel des Vorausfahrenden ausfüllt, dann wird es dem ein oder anderen warm unter dem Rennoverall. Zumal uns andere Rennfahrer erzählt haben, dass der Altfrid - im Privatleben ein netter Mensch - am Steuer des 300 SEL zu einem unerbittlichen Quertreiber mutiert, der aus dem ehemaligen Nobelmodell im Rennen einen Kampf-Stern macht und - erstens - fast unmöglich zu Überholen ist und - zweitens - seinerseits beim Überholen nicht lange fackelt. Ein bisschen Racing-Latein wird da dabeigewesen sein, das Auto hatte noch alle Türklinken und keine sichtbaren Kampfspuren. Andererseits schonte Altfrid Heger auch beim Testen weder sich noch den 300 SEL: "Die Kunst ist es, den Brocken auf der Strasse zu halten!"
Komplettes Racing Interieur - aber mit Holz!
Um diese Aufgabe bestmöglich verrichten zu können, ist das einstige Intrieur komplett geegen ein Racing-Equipement getauscht worden. Anstelle des kommoden Ledergestühls finden sich hier nun zwei haltgebende Recaro-Schalen. Das Korsett der komplett nachgeschweißten und vestärkten Karosserie bildet ein solider Überrollkäfig. Klar, wer das Auge schweifen lässt, entdeckt die zahlreichen für einen Renn-Tourenwagen typischen Details wie die zahlreichen Kippschalter und Zusatzinstrumente. Aber der Betrachter schmunzelt auch darüber, dass HCP das Holz der Armaturenbrettvertäfelung im Auto belassen hat. "Das hat Stil!" raunte mir einer der betreuenden Techniker zu.
Keine Frage, der Benz-Bolide wird von seiner Crew geliebt und von dem anwesenden Publikum mit erfürchtigem Staunen betrachtet. Wie ein Urtier aus einer anderen Zeit. Die rote Sau hat es nicht so gut, denn sie ist nicht mehr. AMG verkaufte den nutzlos gewordenen Sternen-Renner, der dann - umgebaut und im Radstand verlängert - seine letzten Tage als Reifentest-Träger bei Michelin fristete, bis er dann Anfang der Neunziger verschrottet wurde. Ein Stück AMG-Geschichte unwiderbringlich verloren! Das hier gezeigte ehemalige Jörg Leininger Auto aber wird weiter sorgfältig optimiert und aufbereitet. Der Kampf-Stern wird auch 2010 seine Bahn ziehen.
2 Kommentare
Biggibenz
14. Dezember 2009 21:43 (vor über 14 Jahren)
MisterX
11. Dezember 2009 15:04 (vor über 14 Jahren)
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